Mein Lieber

von Helmut Rinke

Drüben winkt einer. Hans-Dieter stutzt. Der Kollege … denkt er, findet aber nicht das Ende des Gedankens. Er zögert. Der freie Platz zwischen ihnen lässt wenig Zeit, das Ende zu finden. Der andere kommt schnellen Schritts auf ihn zu, Sekunden nur. „Scheiße!“, murmelt Hans-Dieter, „Wie peinlich“, und bleibt fast stehen. Der andere streckt ihm schon die Hand entgegen. Hans-Dieter bringt zögernd seine Rechte vor.

„Hallo, Hans-Dieter, lange nicht gesehen“, tönt es ihm entgegen. Der andere drückt zu.
„Ja, hallo auch, … mein Lieber“, sagt Hans-Dieter. „Das ist richtig. Aber wir haben uns trotzdem wiedererkannt. Das ist doch klar unter alten Kollegen wie uns.“ Ein kurzes Kichern. Dann schickt er, bevor der andere seinen Mund in Bewegung bringen kann, einen Wortschwall los, wie Pausenfüller. „Wie lange kennen wir uns eigentlich schon? Wohnst du immer noch in …, äh, in Heven? Was machen deine Kinder? Wie alt sind die jetzt? Wie heißen die noch mal?“
Die Fragen sprudeln so dahin. Der andere kann kaum antworten.
„Neulich“, dreht Hans-Dieter das Rad weiter, „traf ich unseren alten Chef. Da fiel mir der Name nicht ein. Ich wusste nur, der fängt mit B an. Und … weißt du, Namen, die mit B anfangen, konnte ich mir schon immer schlecht merken. Wenn ich zu ihm ging, hab ich vorher immer auf das Türschild gesehen. Aber einen ganz bestimmten Namen mit B kann ich mir merken.“ Hans-Dieter kichert. „Ich weiß ganz bestimmt, dass meine Frau Bärbel heißt.“
Der andere lacht. „Meine Frau hat neulich zu mir gesagt, Berthold, so hat sie gesagt, wir müssen wichtige Sachen öfter auf Zettel schreiben, Berthold. Die Einheit da oben verliert mit der Zeit ihre Zuverlässigkeit.“ Er tippt sich an die Stirn.
Über Hans-Dieters Gesicht huscht ein befreiendes Lächeln. „Berthold! Richtig! Recht hat sie, deine Frau, Berthold. Sehr richtig.“
Beide lachen. Die Blicke gehen aneinander vorbei.
„Ich bin jetzt mal unserem Kollegen Hermann Kurz begegnet“, sagt Berthold. „Wir haben uns die Hand geschüttelt. Berthold, hab ich gesagt, so wie man sich vorstellt. Weiß ich doch, Berthold, sagte der Hermann. Das glaub ich, hab ich gesagt. Aber ich hab gedacht, du sagst mir deinen Namen auch. Dann hat er ‚Hermann‘ gesagt und wir haben uns beide vor Lachen geschüttelt.“
„Ja, ja, der Hermann Kurz“, sagt Hans-Dieter und verzieht leicht den Mund. „Aber der ist ja auch noch im Dienst, der Hermann.“
Hans-Dieter schaut auf die Uhr. „Wir müssten uns bei Gelegenheit mal zu einem Kaffee treffen, so von früher erzählen.
Berthold nickt. „Ich kann ja mal anrufen“, schlägt er vor.
„Gut“, sagt Hans-Dieter, „also du … dann bis bald mal …, mein … mein Lieber.“


© Helmut Rinke

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert